- Die Glocke - Westfalen, Samstag, 18.03.2023
Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche
Mark Bellinghaus fordert höhere Anerkennungszahlung von Kirche
Münster (gl). Scham, fehlender Mut, Angst: Es gibt viele Gründe, warum Opfer von sexualisierter Gewalt in der Kirche mit ihrer Geschichte kaum an die Öffentlichkeit gehen. Mark Bellinghaus (59) war mutig. Der Münsteraner machte 2019 den Missbrauch an ihm in Einrichtungen der evangelischen Kirche publik. Seitdem kämpft er für sich und andere Betroffene – unter anderem für höhere Anerkennungszahlungen. Bellinghaus war einst ein gefragter Schauspieler, wirkte in Fernsehserien („Immer wieder Sonntag“) und Kinofilmen („Der Name der Rose“) mit.
Trotz der Erfolge konnte er das Erlebte nie vergessen – und kann es bis heute nicht. „Im Alter von sechs Jahren wurde ich das erste Mal missbraucht“, erzählt Bellinghaus mit leicht brüchiger Stimme. Über zwei Jahre und drei Monate sei er wiederholt missbraucht und gequält worden – im Knabenchor und im evangelischen Internat in Traben-Trarbach.
Die Erzieherin, die für die Taten im Internat verantwortlich zeichnete, verfolgt ihn bis heute in seinen Albträumen. „Ich wurde von ihr mit dem Rohrstock verprügelt“, nennt er nur das Harmloseste, was ihm dort widerfuhr. Hilfe von anderen? Fehlanzeige. Vielmehr seien Mitschüler selbst zu Tätern geworden, missbrauchten ihn schwerst – „aufgehetzt von der Erzieherin“. „Ich hatte bis dahin eine schöne Kindheit“, erinnert sich Bellinghaus. „Doch das Erlebte hat mich gebrochen.“
Hört er heute von den vielen aufgedeckten Missbrauchsfällen, sei das für ihn nur schwer zu ertragen. „Dann kommt alles wieder hoch“, sagt der Münsteraner, der seit Jahren in Therapie ist.
Über Jahrzehnte hinweg konnte der Schauspieler nicht über seine Erfahrungen öffentlich reden. „Die Gesellschaft war damals auch noch nicht so weit.“ 2019 habe es bei einem Theaterstück, das er besuchte und das das Thema Missbrauch behandelte, aber einen Schlüsselmoment gegeben. „Seitdem weiß ich, dass nicht ich mich schämen muss, sondern diejenigen, die mich gequält haben“, sagt Bellinghaus mit Wut in der Stimme.
Er ging mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit, rief 2020 die Initiative „Saturdays for Children“ ins Leben, die sich für den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt einsetzt. Zuletzt startete er auch eine Online-Petition. „Ich möchte anderen Mut machen“, sagt er. Auch wenn die an ihm begangenen Taten von der evangelischen Kirche anerkannt und entschädigt wurden – mit der Institution hat Bellinghaus keinen Frieden geschlossen. Er wirft der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Vorsitzenden Annette Kurschus vor, das Thema totzuschweigen. „Sie muss zurücktreten“, fordert er. Zugleich will Bellinghaus weitere finanzielle Entschädigung, die so hoch sein sollte wie die der Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche, die seiner Recherche zufolge mehr Geld bekämen. „Was sind läppische 20 000 Euro für die Schmerzen, die ich erleiden musste?“ Beides möchte er am 20. März zum Ausdruck bringen, wenn er ab 11 Uhr vor dem Sitz der Evangelischen von Westfalen in Bielefeld eine Mahnwache abhält.
Zahlung abhängig von Art und Dauer des Missbrauchs
Von LISSI WALKUSCH
Oelde/Düsseldorf/Bonn (gl). Wer Opfer sexuellen Missbrauchs in Einrichtungen der evangelischen oder katholischen Kirche wird, kann Anerkennungszahlungen beantragen. Doch wie lässt sich eine
Summe beziffern für Taten, die die Opfer ihr Leben lang begleiten? „Kein Geld der Welt heilt die
Wunden und kann so etwas wieder gut machen“, sagt Helga Siemens-Weibring, Geschäftsfeldleitung beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe. Dort ist die Fachstelle für die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung untergebracht, die sich um die Anerkennungsleistungen der evangelischen Landeskirchen in NRW kümmert. Mehr als 360 Anträge wurden dort bisher bearbeitet, knapp drei Millionen Euro an Opfer ausgezahlt. Die Summe pro Fallliegt zwischen 5000 und 50 000 Euro. „Das ist keine Entschädigungszahlung“, sagt Siemens-Weibring. Vielmehr handele es sich um Anerkennung des Missbrauchs und dass sich die evangelische Kirche mitschuldig gemacht habe.Wie hoch die Summe ausfällt, ist von Art und Dauer des Missbrauchs sowie von den Folgewirkungen abhängig. Über die Höhe entscheidet eine unabhängige Kommission, die etwa aus Juristen, Psychologen und Erziehern besteht. Sie orientiert sich an dem Schmerzensgeld, das auch deutsche Gerichte festlegen. „Wer einmal einen Blick auf die Schmerzensgeld-Tabellen wirft, sieht, dass das zum Teil sehr wenig ist“, sagt Siemens-Weibring und vergleicht dies etwa mit in den USA gezahlten, deutlich höheren Summen. Das Gerücht, dass Opfer sexuellen Missbrauchs bei der katholischen Kirche eine höhere Zahlung bekommen, hat auch Sylke Schruff von der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen in Bonn gehört.
Dort werden Anträge von Opfern in katholischen Einrichtungen aus Deutschland bearbeitet. Nur: Vergleichen lassen sich die Summen schlecht, da immer nach dem Einzellfall entschieden wird. „Wir orientieren uns an der oberen Grenze des Schmerzensgeldes, das in Zivilprozessen festgelegt wird – manchmal auch darüber hinaus“, sagt sie.
Seit diesem Monat können Opfer Widerspruch gegen den Bescheid der Kommission einlegen. Ein paar Beschwerden hätten die Geschäftsstelle schon im Vorfeld erreicht, sagt Schruff. Meist gehe es darum,dass die Summe für die Opfer nicht hoch genug sei. „Vor der Gründung der Kommission gab es viele Diskussionen, in denen dann auch Summen genannt und nach außen getragen wurden“, so Schruff. „Jemand, der mit 400 000 Euro rechnet, ist natürlich enttäuscht, wenn es letztlich nur 20 000 Euro sind“, sagt sie. Auch sie betont, dass sich mit Geld in keiner Weise wieder gut machen ließe, was den Betroffenen widerfahren sei.
„Es wird Fälle geben, in denen die Kirche weggeschaut hat“
„Die Glocke“: Oft wirkt es so, als wäre sexualisierte Gewalt in kirchlichen Einrichtungen ein Problem der katholischen Kirche. Demmuss man widersprechen, oder?
Fricke: Das ist nicht vorwiegend ein Problem der katholischen Kirche, sondern ein gesamtgesellschaftliches, das auch uns als evangelische Kirche betrifft.
„Die Glocke“: Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, dass die Kirche
beim Thema Missbrauch lange Zeit weggeschaut hat?
Fricke: Wir sind im Moment im Zuge der deutschlandweit angelegten Studie „Forum“ dabei, die die strukturellen Bedingungen für sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche erforscht, dieser Frage nachzugehen. Wir versuchen, Fälle aus der Vergangenheit noch einmal aufzuarbeiten und daraufhin zu überprüfen, ob weggeschaut oder diesen nicht konsequent nachgegangen worden ist. Aber ja, es wird Fälle geben, in denen weggeschaut wurde.
„Die Glocke“: Kann man sagen, dass die Zahl der Meldungen in den vergangenen Jahren gestiegen ist durch die öffentliche Debatte?
Fricke: Ja, absolut. Und zwar zum einen wegen der aufgekommenen Debatte. Vor allem aber, seit das Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt alle Mitarbeitenden dazu verpflichtet, Verdachtsfälle zu melden. Das heißt nicht, dass mehr passiert ist in den vergangenen Jahren, sondern dass durch unseren konsequenten Umgang damit die Bereitschaft größer geworden ist, Beobachtungen zu melden, und dass auch Betroffene zunehmend den Mut finden.
„Die Glocke“: Sie sprechen mit Betroffenen: Was empfinden Sie, wenn Sie von deren Schicksalen erfahren?
Fricke: Ich will nicht sagen, dass es mich „betroffen“ macht. Das klingt schräg, weil ich in dieser Weise nicht betroffen bin. Aber es berührt mich. Ich habe Hochachtung davor, dass diese Menschen mich daran teilhaben lassen und mir damit auch zumuten, das aushalten zu müssen.
„Die Glocke“: Nehmen wir an, ein Opfer zeigt den Missbrauch ansich bei der EKvW an. Wie geht es danach weiter?
Fricke: Wenn die Person zu mir kommt, muss ich ihr signalisieren, dass sie die Kontrolle darüber behält, was geschieht. Deswegen ist es wichtig, dass ich – wenn die Person das will – durch den Schutz des Seelsorgegeheimnisses garantieren kann, dass so lange nichts passieren wird, wie es die betroffene Person möchte. Will sie, dass etwas geschieht, gebe ich das weiter an die Meldestelle. Das heißt, dass man dort schaut: Ist das eine Person, die sexualisierte Gewalt in einer Kirchengemeinde erlitten hat? Dann geht der Fall an das Leitungsorgan vor Ort, bei uns ist das das Presbyterium. Das bildet ein Interventionsteam. Dessen Mitglieder werden über den Fall informiert und müssen über diesen befinden. Unsere Interventionsstelle ist dabei beratend beteiligt. Am Ende wird dann dort entschieden, was passieren muss.
„Die Glocke“: Ein Weg ist, die Opfer zu entschädigen. Aber Geld kann das Leid der Betroffenen ja nicht aufwiegen, oder?
Fricke: Nein, und deswegen sprechen wir auch nicht von Entschädigungen oder Schadenersatzleistungen. Von sexualisierter Gewalt Betroffene können einen Antrag stellen auf finanzielle Leistungen in Anerkennung erlittenen Leides.
„Die Glocke“: Können Sie nachvollziehen, wenn Menschen sich wegen immer neuer Missbrauchsfälle von der Kirche abwenden?
Fricke: Ja, das kann ich.
Dabei sind es weniger die Kirchenfernen, die sagen, dass sie mit der
Kirche nichts mehr zu tun haben wollen. Sondern es sind die
Kirchennahen, Menschen, denen Glaube und Kirche am Herzen liegen. Wie
soll ich ihnen übelnehmen, wenn sie nicht mehr Mitglied in der
Kirche sein wollen? Zugleich ist es mein kirchenpolitischer Auftrag,
diesen Menschen zu vermitteln, dass sie einer Kirche angehören, die
dieses Problem nicht leugnet und
alles versucht, dagegen anzugehen.
Geringer Aufwand für Betroffene
Oelde/Düsseldorf/Bonn (lw).
Den beiden Stellen, die bei den Kirchen zuständig für die Anerkennung von sexualisierter Gewalt sind, ist gemein, dass sie den Aufwand für die Opfer so gering wie möglich halten wollen. Idealerweise setzten sich Betroffene vorher mit dem zuständigen Missbrauchsbeauftragten der Einrichtung in Verbindung, sagt Sylke Schruff. Der könnte dann auch beim Ausfüllen des Antrags behilflich sein und mit der Person vertraulich über die Taten sprechen. Der Antrag werde dann an die Kommission weitergeleitet.
„Theoretisch reicht der bloße Antrag, oftmals werden aber auch Protokolle und Ähnliches geschickt“, sagt Schruff. Viele Opfer hätten etwa über Jahre hinweg Unterlagen gesammelt. Anschließend folge eine Plausibilitätsprüfung. Ermittlungen würden nicht angestellt. Es werde aber bei der Einrichtung nachgefragt, ob die beschuldigte Person dort gearbeitet habe und ob die Angaben passen könnten. Im Schnitt dauere die Bearbeitung eines Antrags vier Monate. Manchmal gebe es allerdings Verzögerungen, weil noch Nachfragen gestellt würden oder es staatliche Ermittlungen oder Gerichtsprozesse gegen den Täter gebe, deren Ergebnisse man noch abwarten wolle.
Bei den evangelischen Einrichtungen werden Antragsstellern Betreuungspersonen zur Seite gestellt. Eine Plausibilitätsprüfung wird ebenfalls nach Eingang eines Antrags gemacht. „Da geben wir uns manchmal mit dem Mindesten zufrieden“, sagt Helga Siemens-Weibring. Dass ein Antrag negativ beschieden werde, komme nur in seltenen Fällen vor – etwa weil es sich bei den Taten nicht um sexuellen Missbrauch, sondern um Gewalt oder Medikamentenmissbrauch handele, für die andere Stellen zuständig seien.
Grundsätzlich soll die Anerkennungszahlung innerhalb kurzer Zeit nach Beschluss der Kommissionen bei den Opfern eingehen.
Dafür gibt es bei der evangelischen und katholischen Kirche Konten, um die Zahlung so unbürokratisch wie möglich zu machen. „Die Opfer sollen dem Geld nicht noch hinterherlaufen müssen“, sagt Schruff.
Nicht wenigen Betroffenen gehe es dabei nicht mal um den Betrag. „Manche sind froh, dass sie gehört, ihnen geglaubt und die Schuld der Kirche anerkannt wird.“
F-A-K-T-E-N-C-H-E-C-K bezüglich der Aussagen von Frau Helga Siemens-Weibring, Frau Sylke Schruff,
Ein vorbildlich recherchierter Artikel vom Team der "Glocke" (Reporter Lissi Walkusch & Benedikt Paweltzik), in dem die Geschäftsleiterin beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe, Frau Helga Siemens-Weibring und auch Frau Sylke Schruff, von der unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen in Bonn, ganz schamlos behaupten: "Das Gerücht, dass Opfer sexuellen Missbrauchs bei der katholischen Kirche eine höhere Zahlung (als in der evangelischen Kirche) bekommen...." Auffällig erscheint hierbei, dass Frau Schruff diese Arbeit professionell tätigt und dennoch keinerlei Ahnung zu haben scheint. Und ein solcher Mensch kann, darf und soll über die finanzielle "Anerkennungszahlung" an Missbrauchsopfer, entscheidungsfähig sein? Das klingt nicht nur skandalös, das ist es auch.
Diese beiden Damen stellen also den renommierten Leiter der Kulturredaktion der Rheinischen Post, Herrn Lothar Schröder, und mich, als Lügner, Träumer und Phantasten dar?
Lothar Schröder schrieb in seinem Artikel: (Katholische) "Kirche zahlt 40 Millionen Euro an Betroffene"), So wird aus einem "Gerücht" ein Faktencheck und beinharte Wahrheit. Die beiden Damen schulden uns somit eine klare Entschuldigung. Klar und deutlich, denn wer steht öffentlich schon gern als "Lügner" da? Sind diese beiden denn überhaupt qualifiziert für deren Job, und warum dürfen sie über die Summen von uns Missbrauchsopfern entscheiden, wenn sie nun ganz nachweislich keine Ahnung haben von ihrem Metier?! Ich setze voraus, dass sie bereits wussten, warum ich das gute Recht habe, mehr "Wiedergutmachung" zu verlangen. Jeder Mensch mit Verstand, der so lange leiden musste wie ich, würde dies tun!. Jeder, der/die das gravierend schmerzende Unrecht der EKD kapiert und erkannt hat!
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